Unmittelbare Folgen des Volksaufstandes in Brandenburg an der Havel

Die Maßnahmen des „Neuen Kurses“ hatten schon vor dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 den Druck auf bestimmte Teile der Gesellschaft gemildert waren jedoch nur halbherzig und in wenigen Einzelfällen umgesetzt worden. Schon in der Woche vor dem 17. Juni waren viele von ihnen wieder zum Unterricht zugelassen worden. Die aufgestaute Wut in der Bevölkerung und den angerichteten politischen und wirtschaftlichen Schaden, konnte diese Kehrtwendung aber nicht wieder vergessen machen. Nur die wenigsten trauten den Versprechungen der DDR. 

Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes musste die SED nun jeden Anschein vermeiden, dass die Reduzierung des Drucks etwas mit den Streiks und Protesten zu tun hatte. Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Bevölkerung den Beteuerungen der Partei Glauben schenkte. Auch Propagandaartikel wie der am 4. Juli 1953 erschiene fiktive Dialog zwischen der periodisch auftauchenden Figur „Orje“ und einem nicht namentlich genannten Fragesteller dürfte kaum überzeugend gewesen sein, ebensowenig wie bald auftauchende Argumentationen zur angeblich verbesserten Wirtschaftslage.

Wenn man in den Wochen nach dem 17. Juni die Brandenburgischen Neuesten Nachrichten aufschlug, konnte man in der Tat den Eindruck gewinnen, dass ein revolutionärer Umschwung in der Politik stattgefunden hatte. Tag für Tag berichtete die Tageszeitung der National-Demokratischen Partei Deutschlands über die Rückgabe von Geschäften oder über Privatunternehmer die ihre Geschäfte erweitern durften. Am 19. Juni 1953 verkündete das Blatt erfreut „Wieder Bockwurst in den Gaststätten“.

Gleichzeitig machten aber Warnungen vor Hamsterkäufen in der selben Ausgabe deutlich, dass die Versorgungslage sehr angespannt war und sich auch durch rasch freigegeben Lebensmittel aus den Beständen der Staatsreserve nicht schnell entschärfen ließ.

Insgesamt lassen sich aus den Berichten der „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“ über fünfzig Geschäftsrückgaben oder Neuzulassungen nur für die Zeit vom 24. Juni bis 18. August 1953 nachweisen.

Diese Zahlen können allerdings keine Auskunft darüber geben, wie lange sich die genannten Unternehmer nach den Rückgaben noch halten konnten.

Einschätzung der Bezirksparteikontrollkommission Potsdam (BPKK)

Mit der Arbeit der Staatssicherheit während der Ereignisse am 17. Juni 1953 in der Stadt Brandenburg beschäftigte sich am 2.9.1953 die BPKK Potsdam. Die SED-Genossen in Brandenburg fürchteten wie in allen Kreisen des Bezirkes Potsdam eine Auseinandersetzung mit den „Provokateuren“. Die Forderung war, einen konsequenteren ideologischen Kampf auf den SED-Mitgliederversammlungen zu führen. 

Scharf wurde die „Märkische Volksstimme“ angegriffen. Wie viele Menschen in dieser unruhigen Zeit  waren auch die Redakteure verunsichert darüber, welche Folgen kritische Äußerungen beruflich und persönlich haben könnten. Anleitungen für die Arbeit der Redakteure durch die Leitungen der Zeitungen konnten bisher nicht gefunden werden.  

Auch die Staatssicherheit der Kreise Brandenburg und Rathenow bekam für ihre Arbeit scharfe Kritik. Tatsächlich war das Ministerium für Staatssicherheit auf den Volksaufstand nicht vorbereitet. Die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes traten am 17. Juni 1953 kaum in Erscheinung sondern beobachteten die Lage lediglich. Nach der Niederschlagung des Aufstandes sollte diese Untätigkeit durch die schnelle Überführung angeblicher Rädelsführer wettgemacht werden. Dabei geriet der Geheimdienst in ein neues von der SED verursachtes Dilemma: Um zu beweisen, dass der Volksaufstand ein „faschistischer Putsch“ gewesen war, benötigte man schnell dessen Organisatoren. Bei der Jagd auf diese Menschen musste die Staatssicherheit zwangsläufig scheitern. Da es keine „Hintermänner“ gab, konnte das MfS gar keine Erfolge im Sinne der SED erzielen.

Die SED-Kontrollkommission war überzeugt, dass in Brandenburg und Rathenow sozialdemokratische Untergrundbewegungen bestünden. Trotz intensiver Suche fand man aber keine vermeintlichen Agenten und musste sich darauf beschränken, den geflohenen Verdächtigen eine konspirative Tätigkeit im Dienste des Westens zu unterstellen.

Schon bei der Verkündung des „Neuen Kurses“ hatten die Herrschenden einräumen müssen, dass auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet Fehler gemacht worden waren. Zu weit durfte diese Selbstkritik aber nicht gehen, denn die SED bestand darauf, dass ihre Politik grundsätzlich richtig gewesen war. Die Ursachen für den Ausbruch der Proteste mussten also vor allem im persönlichen Fehlverhalten einzelner Funktionäre zu suchen sein.

In Brandenburg an der Havel geriet die gesamte politische Führung der Stadt ins Visier der zahlreich ausschwärmenden Inspektorengruppen der Kontrollkommission der SED. Der Oberbürgermeister der Stadt, der SED-Kreisleiter, der Leiter der Kreisdienststelle der Staatssicherheit und weitere Funktionäre mussten sich den Vorwurf der Feigheit gefallen lassen, da sie sich im Volkspolizeikreisamt versteckt hatten. 

Dem Oberbürgermeister, Otto Kühne, wurde vor allem vorgeworfen, dass er sich mit der Menge vor dem Volkspolizeikreisamt auf Verhandlungen eingelassen hatte. In der Sprache der SED war dies „kapitulantenhaftes Verhalten“. Im Oktober wurde Otto Kühne in einer außerordentlichen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung als Oberbürgermeister abgelöst. (LINK Otto Kühne)

Die Gewerkschaft

In vielen Betrieben waren erst kurze Zeit vor dem 17. Juni 1953 neue Gewerkschaftsvertreter gewählt worden.

Viele Gewerkschaftsfunktionäre hatten, wie der FDGB selbst, die uneingeschränkte Führungsrolle der SED anerkannt. Am 17. Juni fanden sich jedoch viele von ihnen plötzlich in der Rolle eines echten Arbeitervertreters wieder. Sie ließen sich zum Beispiel in Streikleitungen wählen oder stellten Schreibmaschinen, Büros und Telefon zur Verfügung. 

Nach der Niederschlagung wurden sie als Arbeiterverräter gebrandmarkt und gemaßregelt.

Unter der Schlagzeile „Mit Arbeiterverrätern machen wir Schluss“ rechnete die SED in der Betriebszeitung des Walzwerkes „Willy Becker“ mit zwei Gewerkschaftern ab, die sich am 17. Juni für die Arbeiter eingesetzt hatten.

Fazit

Die Niederschlagung des Volksaufstandes verdeutlichte den Menschen in der DDR, dass sie für lange Zeit nicht am politischen Willensbildungsprozess beteiligt werden würden. Die Rollen waren festgelegt: Die SED sorgte dafür, dass die Arbeiter warme und bezahlbare Wohnungen erhielten und dafür, dass die alltägliche Grundversorgung zu erschwinglichen Preisen zu bekommen war. Die Preise für Grundnahrungsmittel, für den öffentlichen Personennahverkehr, für Energie und Mieten blieben im Verhältnis zu den Löhnen auf niedrigem Niveau, weit unter dem, was wirtschaftlich gewesen wäre. Gleichzeitig verlangte die Partei von den Arbeitern Unterordnung und öffentliche Treue zur ihrer Politik. Die Schwierigkeiten, Dinge zu beschaffen, die über den täglichen Bedarf hinausgingen, sowohl bei Nahrungs- und Genussmitteln, als auch bei Konsumgütern, ließen sich jedoch nie beheben. Da sich die meisten Menschen am Lebensstandard in der Bundesrepublik Deutschland orientierten, reichte dies auf Dauer nicht aus, um so weniger, als nach dem Mauerbau 1961 auch die Möglichkeit verschwand, die westliche Überflussgesellschaft wenigstens zeitweise zu besuchen.

Das Trauma, dass der SED durch den spontanen Volksaufstand zugefügt wurde, führte zu einer immer weiter um sich greifenden Überwachung und zum drastischen Ausbau der „bewaffneten Organe“, zu denen auch die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in den Betrieben zählten. Jeder Jahrestag des Volksaufstandes löste bei Volkspolizei und Staatssicherheit hektische Betriebsamkeit aus, doch angesichts der Machtdemonstration 1953 und der Niederschlagung der Aufstände in anderen „sozialistischen“ Ländern, war für die Mehrheit der Bevölkerung ein neuer Aufstand undenkbar. 

Als im Jahr 1971 Erich Honeckers die Macht übernahm, wurde mit dessen Konzept von der „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik“ der Pakt „Soziale Sicherheit gegen Wohlverhalten“ noch einmal bekräftigt. Welche Sprengkraft, sich aus der fehlenden demokratischen Legitimation der SED-Herrschaft ergab, begriffen die Machthaber in der DDR nicht. Dass Erich Honecker laut Egon Krenz die Erhöhung der Marmeladenpreise für den Volksaufstand verantwortlich machte, zeigt den begrenzten Horizont der Herrschenden

Auch wenn man nicht davon ausgehen darf, dass sämtlichen Demonstranten die parlamentarische Demokratie nach heutigem bundesdeutschen Muster vorschwebte, so setzten sie sich doch gegen eine ungerechtfertigten Bevormundung zu Wehr und verlangten ihre Beteiligung am politischen Prozess. Wahrscheinlich gab es unter den Protestierenden sogar eine gewisse Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Experimenten, die jedoch durch das Überstülpen einer dogmatischen Weltanschauung erstickt wurde. Die Mut und der Wille, sich gegen Bevormundungen zur Wehr zu setzen, verbindet die Jahre 1953 und 1989 miteinander.