Wie es 1953 zum
Volksaufstand kam
Die Proteste und Demonstrationen, die am 17. Juni 1953 in der gesamten DDR ausbrachen, waren der Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits im Sommer 1952 begann und deren Nachwirkungen noch lange nach dem Aufstand zu spüren waren.
Aus heutiger Sicht kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die deutsche Teilung besiegelt war. In Ost und West bestanden die Regierenden jedoch darauf, eine Wiedervereinigung anzustreben. Für die DDR stellte die 2. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) einen Bruch in dieser Frage dar. Der zentrale Beschluss dieser Konferenz war, dass in der DDR die Grundlagen des Sozialismus planmäßig aufgebaut werden sollte. Für die Bundesrepublik und die westlichen Alliierten kam dagegen nur eine Vereinigung auf demokratischer Grundlage in Frage. Die Bundesregierung war im Begriff mit der Unterzeichnung des Vertrages zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) einen weiteren Schritt in Richtung West-Bindung zu unternehmen.
Der schon von den Zeitgenossen festgestellte Bruch in der offiziellen Politik war tatsächlich aber weniger scharf als es scheint. Seit den vierziger Jahren waren in der DDR bereits zahlreiche Institutionen entstanden, die als Vorläufer eigenstaatlicher Einrichtungen betrachtet werden konnten. Die Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft nahm die SED-Führung nun zum Anlass, die verdeckt laufenden Prozesse offensiver zu vertreten.
Drei Personen spielten auf der 2. Parteikonferenz entscheidende Rollen:
- Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, stellv. Vorsitzender des Ministerrates DDR
- Otto Grotewohl, Vorsitzender der SED (gemeinsam mit Pieck), Vorsitzender des Ministerrates der DDR
- Wilhelm Pieck, Vorsitzender der SED (gemeinsam mit Grotewohl), Präsident der DDR
Die Auswirkungen der 2. Parteikonferenz auf
Brandenburg an der Havel
In seiner Rede vor der 2. Parteikonferenz sprach Walter Ulbricht von der „Brechung des Widerstandes der gestürzten und enteigneten Großkapitalisten und Großagrarier.“ Dieser Kampf war bereits seit dem Ende des Krieges im Gange, im Zusammenhang mit der 2. Parteikonferenz setzte aber eine neue Welle der Repressionen gegen private Händler und Unternehmer ein. Auf Grundlage der Steuergesetzgebung wurden sie kriminalisiert, öffentlich angeprangert und schließlich enteignet. In den Tageszeitungen „Märkische Volksstimme“ und „Brandenburgische Neueste Nachrichten“ finden sich zahlreiche Veröffentlichungen.
Im bekannten Fall des Fuhrunternehmers Kurt Taege, da seine Verhaftung bereits am 12. Juni 1953 zu einer großen Protestdemonstration in der Brandenburger Steinstraße führte.
Schaffung der bewaffneten Streitkräfte der [DDR]
Bewaffnete Einheiten waren in allen Besatzungszonen schon kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges aufgestellt worden, vor allem um Polizeiaufgaben zu übernehmen. In der DDR hatte sich aus ihnen allerdings schnell eine getarnte Armee entwickelt, die auch mit schweren Waffen ausgerüstet war.
Mit der zweiten Parteikonferenz war eine weiterer Militarisierungsschub verbunden. Jetzt wurde auch offen von „bewaffneten Streitkräften der DDR“ gesprochen. Die Werbung für die „Kasernierte Volkspolizei“ in den Betrieben und Oberschulen nahm zu und in der SED-Presse wurde die Propaganda verstärkt.
Von der Bevölkerung wurden die Aufrüstung der Jahre 1952 und 1953 äußerst kritisch aufgenommen.
Es bestanden generell große Vorbehalte gegen eine Wiederaufrüstung, waren doch die Erinnerungen an den letzten Krieg noch frisch. In vielen Familien wartete man noch auf vermisste Soldaten und auch im Stadtbild waren die Folgen noch lange nicht beseitigt. Außerdem entging der Bevölkerung nicht, dass die Aufrüstung hohe Kosten verursachte. Am offensichtlichsten war der Verlust des Wohnraumes, der durch die Stationierung von KVP-Einheiten in der OPEL-Siedlung in Hohenstücken entstand.
Förderung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften
Schon im Frühjahr 1952, also vor der 2. Parteikonferenz war es in einigen Orten zur Gründung von Genossenschaften gekommen. Nun erhielt die gemeinsame Bewirtschaftung sozusagen höhere Weihen.
Für die Einzelbauern bedeutete dies eine neue Phase der Gängelei und Bevormundung. Die Abgaben, die jeder Bauer an staatliche Erfassungsstellen leisten musste, waren so gestaffelt, dass sich die Menge je Hektar mit zunehmender Betriebsgröße erhöhte. Rein rechnerisch war es also ab einer bestimmten Nutzfläche gar nicht mehr möglich die Pflichtablieferung zu erfüllen.
Sogenannte „Abgabesünder“ wurden an den Pranger gestellt, verhaftet und verurteilt.
Schwerindustrie statt Konsumgüter
Die SED in der Stadt Brandenburg an der Havel hatte aus den Forderungen der 2. Parteikonferenz von 1952 einen eigenes Vorhaben entwickelt. Dessen etwas sperriger Titel lautete: „Kampfplan zur Mobilisierung aller Reserven zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus im Stadtkreis Brandenburg“.
Der Plan wies vor allem auf die Bedeutung Brandenburgs für die Schwerindustrie hin.
Die Produktion von Konsumgütern wurde zwar erwähnt, war aber eher nachrangig. In erster Linie ging es darum, Abfälle aus der Industrie zu nutzen. Die von der SED vorgesehen Reihenfolge stellt sich eher so dar: Stahl erzeugen, Maschinen bauen, Konsumgüter produzieren.
Die sogenannten „Schwerpunktbetriebe“ wurden bei der Belieferung mit Material bevorzugt, außerdem erhielten sie Sonderrationen besonders knapper Lebensmittel.
Zusätzlich wurden die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Belegschaften dieser Betriebe besser erfüllt. An erster Stelle stand das neue Stahl- und Walzwerk, gefolgt vom Schlepperwerk, der Volkswerft „Ernst Thälmann“ und anderen Industriebetrieben.
Diese Ungleichbehandlung war schwer vermittelbar. Wie sollte man auch dem Bauarbeiter, der das Stahl- und Walzwerk aufbaute, begreiflich machen, dass der Produktionsarbeiter, wenige Meter entfernt, erheblich mehr verdiente und obendrein von der Sonderversorgung profitierte?
Normerhöhungen
Die DDR-Betriebe blieben mit ihrer Produktion hinter den Planungen der SED-Wirtschaftstheoretiker zurück. Um wirtschaftlich arbeiten zu können hätte man nun die Infrastruktur verbessern müssen, was enorme Summen verschlungen hätte. Da dieses Geld nicht vorhanden war, nahm man die Arbeitslöhne ins Visier um die Kosten zu senken.
Tatsächlich wurden die Normvorgaben vielerorts durch die Arbeiter weit übertroffen und es wäre relativ leicht möglich gewesen schneller zu arbeiten.
Die Löhne in der DDR waren in dieser Zeit aber so niedrig, dass sie nur mit den Zusatzprämien für Übererfüllung der Normen ein auskömmliches Leben ermöglichten. Auf diese Problemlage nahm die SED aber keine Rücksicht. Sie entsandte Agitatoren und sorgte dafür, dass Forderungen angeblich klassenbewusster Arbeiter nach höheren „technische begründeten Arbeitsnormen“ publiziert wurden.
Nachdem die ausgreifende Propagandaaktion nicht den erwünschten Erfolg gebracht hatte, verordnete die SED-Führung schließlich eine pauschale Normerhöhung von ca. 10%. Mit dieser Maßnahme hatte die SED endgültig die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich aufgebracht.
Kirchenkampf
Brandenburg an der Havel war der Schauplatz eines außergewöhnlich harten Vorgehens der SED gegen die Religion. Im Mittelpunkt der kirchenfeindlichen Politik stand der Kampf gegen die Junge Gemeinde der evangelischen Kirche.
Der evangelischen Kirche wurde vorgeworfen, eine illegale Jugendorganisation gegründet zu haben. Auf diesem Wege konnte die Junge Gemeinde in ihrer Eigenschaft als „Organisation“ bekämpft werden, ohne dass die SED in Widerspruch zu ihrer offiziell neutralen Position zur Kirche geraten wäre.
Es war vor allem die Aufgabe der staatstreuen Freien Deutschen Jugend (FDJ), die Junge Gemeinde zu bekämpfen. Im Zentralorgan der Jugendorganisation erschienen die ersten Artikel einer republikweiten Pressekampagne gegen die Junge Gemeinde. Darin wurde den jungen Christen unterstellt, im Auftrag westlicher Geheimdienste in der DDR Anschläge zu verüben und Sabotage zu treiben. Obwohl diese Berichte jeglicher Grundlage entbehrten, wurden sie von der FDJ als Anlass genommen, in den Schulen sogenannte Protestveranstaltungen durchzuführen, in denen die jungen Christen bloßgestellt und vom Unterricht ausgeschlossen wurden. In Brandenburg an der Havel wurden auf diese Weise über 70 Jugendliche von den Oberschulen verwiesen.
Republikflucht
Der wachsende politische Druck veranlasste immer mehr Menschen, der DDR den Rücken zu kehren. Vor allem junge und gut ausgebildete DDR-Bürger wählten den Weg in den Westen. Viele fürchteten nicht nur den Entzug der materiellen Lebensgrundlage sondern letztlich auch festgenommen und verurteilt zu werden, Beispiele dafür wurden ja im großen Umfang über die SED-Presse veröffentlicht.
Allein für den März meldete die SED-Bezirksleitung die Flucht von 122 Einzelbauern an das Zentralkomitee der SED, im April 1953 verließen insgesamt über 1800 Menschen den Bezirk Potsdam in Richtung Westen. Auch viele Schülerinnen und Schüler aus der Stadt Brandenburg an der Havel, die wegen ihres christlichen Glaubens vom Unterricht ausgeschlossen worden waren, verließen die DDR um in der Bundesrepublik oder in West-Berlin doch noch das Abitur ablegen zu können.
Gegen dieses Ausweichen konnte die SED im Grunde nichts unternehmen, solange der Weg über Berlin frei war. Auch die Schreckensberichte von Rückkehrern aus der Bundesrepublik, die vor allem die angebliche Not und das Elend im westlichen Teil Deutschlands zum Inhalt hatten, konnten die Fluchtbewegung nicht abschwächen. Die monatlichen Flüchtlingszahlen erreichten in der Zeit vor dem Volksaufstand die höchsten Zahlen seit der Gründung der DDR.
Neuer Kurs
Die Maßnahmen zum beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der DDR wirkten sich auf alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gebiete hemmend aus und die Flüchtlingszahlen stiegen von Woche zu Woche. Angesichts der verheerenden Auswirkungen sah auch die Führung in Moskau, dass dieser Kurs nicht zu halten war. Immer nachdrücklicher empfahlen sie der SED eine Verlangsamung der sozialistischen Umgestaltung aber erst, als sie die SED-Führung unter der Leitung von Walter Ulbricht nach Moskau zitierte, reagierten diese auf die Anweisungen.
Am 3. Juni 1953 kehrte die Gruppe um Ulbricht und Grotewohl aus Moskau zurück, die Diskussionen innerhalb der SED begannen. Sie mündeten schließlich in Beschlüssen des DDR-Ministerrates und der Zentralkomitees der SED, die ab 11. Juni in der Presse verbreitet wurden.
Das Kommuniqué enthielt eine ganze Reihen von Maßnahmen, die im krassen Gegensatz zu der bis dahin verfolgten Politik standen.
Unter anderem wurden die Repressalien gegen die christlichen Jugendlichen zurückgenommen, was unter den FDJ-Funktionären und auch innerhalb der SED Unverständnis auslöste.
Verurteilungen gegen private Unternehmer und Einzelbauern wurden zurückgenommen, weitere Haftentlassungen vorbereitet. Die Bevölkerung reagierte zwar erleichtert, blieb aber zurückhaltend. In einigen Orten versammelten sich Angehörige und Freunde von Verhafteten vor den Gefängnissen um die Freigelassenen zu begrüßen. In Neuruppin wurde beispielsweise am 12. Juni eine Menschenmenge von ca. 1000 Menschen durch SED-Agitatoren zerstreut.
Am gleichen Tag spielten sich auch in Brandenburg an der Havel ähnliche Szenen ab. Die Belegschaft des Fuhrunternehmers Taege wollte ihren Chef begrüßen, der wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen hinter Gittern saß und dessen Freilassung man nun erwartete.
Aus dem kleinen Willkommensfest wurde innerhalb von kurzer Zeit eine Protestversammlung mit bis zu 5000 Teilnehmern. Die Proteste nahmen die gesamte Steinstraße ein, hier befanden sich nicht nur das Kreisgericht, sondern auch der Firmensitz der Spedition Taege und das Jugendklubhaus der FDJ. In Verlauf des Nachmittages verlagerte sich ein großer Teil der Proteste vor das FDJ-Klubhaus, dass sogar zeitweise besetzt wurde. Vor allem die jungen Christen wurden für den ständigen Zulauf an Protestierenden verantwortlich gemacht. Richter Kelm berichtete von "mit westdeutschen und westberliner Fahrrädern versehenen Gruppen Jugendlicher, im Alter von 17 bis 22 Jahren, die in erheblicher Anzahl die Abzeichen der Jungen Gemeinde trugen." (BLHA, Rep. 530, Nr. 1011, Bl. 64 RS)
Trotz der grundsätzlich zustimmenden Haltung der Bevölkerung, kam die Verkündung des „Neuen Kurses“ zu spät und auf dem falschen Wege. Ebenso wie die Maßnahmen der 2. Parteikonferenz, waren sie von oben verordnet worden. Vor allem hatte man eine wichtige gesellschaftliche Gruppe nicht entlastet: Die Normen der Bauarbeiter wurden nicht gesenkt. Noch am 16. Juni wurden sie in der Zeitung der Einheitsgewerkschaft FDGB verteidigt.