Strafprozesse

Frau D., 18 Jahre alt, Strickerin im VEB Feinjute1

Die 18-jährige Frau D. wurde am 18. Juni 1953  mit dem Vorwurf der Teilnahme an „konterrevolutionären Handlungen verhaftet“.2

Die gelernte Säuglingspflegerin arbeitete zu dieser Zeit als Strickerin im VEB Feinjute. Als sie am 17. Juni 1953 von den Schüssen auf Günther Sülflohn hörte, legte sie ihre Arbeit nieder und lief zum Volkspolizei-Kreisamt.

Während der Gerichtsverhandlung am 9. Juli 1953 vor dem Bezirksgericht Potsdam sagte sie aus: „Ja, ich habe mitgemacht und auch geschrien, die Mörder und Verbrecher herauszugeben. Ich habe mitgebrüllt ‚wir stürmen’, war wohl auch vorn, aber nicht an der Spitze. Ich habe die Volkspolizisten weggestoßen, um in das Gebäude zu gelangen, riß das Plakat und den Radio-Apparat herunter. (...) Ich hatte auf die Volkspolizisten eine Wut, weil sie geschossen haben. (...) Ich gebe auch zu, gerufen zu haben ‚Halt die Fresse’ als der Ausnahmezustand verkündet wurde.“3

Das Gericht verurteilte sie am 14. August 1953 zu vier Jahren Zuchthaus. Im Dezember 1956 wurde Frau D. auf Bewährung entlassen.4


Prozessakten der Staatsanwaltschaft Potsdam; BStU, Ast. Potsdam STA 4409 Blatt 17ff.

ebenda Blatt 17

ebenda Blatt 137

ebenda Blatt 274

Herr C.: 3 Jahre Zuchthaus1

Der 21-jährige Herr C. arbeitete als Bohrer im Schlepperwerk.

Er schloss sich dem Streik der Bauunion-Arbeiter an und demonstrierte in die Brandenburger Innenstadt. Nach seiner Verhaftung am 18. Juni 1953 gab er während einer Vernehmung im Potsdamer Stasi-Gefängnis an: „Vor dem Amtsgericht in Brandenburg schrie ich mit den anderen: ‚Laßt die Häftlinge frei. Wir fordern Senkung der HO-Preise, wir fordern gesamtdeutsche Wahlen.’ Verschiedene Personen, die ich nicht kenne, brachten den mit einer Handschelle gefesselten Staatsanwalt. Ich zog ihn mit auf das umgestürzte Volkspolizei-Auto und schlug dabei auf den schon blutenden Staatsanwalt ein. Von dem Wagen begab ich mich auf den Hof der Haftanstalt, um nachzusehen, ob mein Arbeitskollege Herr G. schon befreit gewesen ist.“2

Am 14. August 1953 verurteilte der 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Potsdam Herrn C. wegen Landfriedensbruch zu drei Jahren Haft.


1Prozessakten der Staatsanwaltschaft Potsdam; BStU, Ast. Potsdam STA 4409 Blatt 78ff.

2ebenda Blatt 78

3 Jahre Haft für Herrn B., Schlosser bei der Bauunion1

In der Steinstraße nahmen mehrere Demonstranten gegen 11.00 Uhr ein Volkspolizei-Fahrzeug und die „Grüne Minna“ in Betrieb. Sie wollten damit in die Strafvollzugsanstalt Görden fahren, um auch dort die Gefangenen zu befreien. Einer von ihnen war Herr B., 1930 geborener Montageschlosser der  Bauunion Brandenburg. Herr B. half dabei, einen Wagen anzulassen. In der Kirchhofstraße blieb eines der Fahrzeuge liegen. Danach schloss er sich dem Protestzug durch die Stadt an.

Am 18. Juni 1953 wurde Herr B. wegen  „Beteiligung an konterrevolutionären Handlungen“ verhaftet.2

Am 14. August 1953 verurteilte ihn das Bezirksgericht Potsdam zu drei Jahren Gefängnis.


1Prozessakten der Staatsanwaltschaft Potsdam; BStU, Ast. Potsdam STA 4409 Blatt 78ff.

2ebenda Blatt 78

Der „Rädelsführer“ Ullrich Tettenborn1

Zu Beginn seiner Schicht im Stahl- und Walzwerk Brandenburg am 17. Juni 1953 traf der 22-jährige Technologe Ullrich Tettenborn auf seine diskutierenden Kollegen.

Einige berieten den Vorschlag des Werkleiters, eine Delegation nach Berlin zu schicken. Sie sollte einen Forderungskatalog der Stahlarbeiter überbringen.
Ullrich Tettenborn dauerte  die Diskussionen zu lang. Er wollte die Menschen zum Streik bewegen und deshalb die Werkssirene einschalten. Auf dem Weg zum Sirenenschalter verhaftete  ihn der Betriebsschutz.

Am 24. Juni 1953 verurteilte ihn das Bezirksgericht Potsdam zu 1 Jahr und 6 Monaten Haft. In der Betriebszeitung „Stahl für den Frieden“ erschien  ein Artikel gegen den „Rädelsführer“ Tettenborn. Wegen „geringer Schuld und unbedeutender Folgen der Tat“ wurde das Urteil am 3. Juli 1953 vom Obersten Gericht aufgehoben. Ullrich Tettenborn wurde am 12. Juli 1953 aus dem Potsdamer Staatssicherheitsgefängnis entlassen. Wenig später floh er in die Bundesrepublik.

 


1Prozessakten der Staatsanwaltschaft; BStU, Ast. Potsdam, STA 4427 Band I und II; vgl. Fernschreiben an MfS Bezirksverwaltung Potsdam am 17.6.1953 um 9.50 Uhr aus Brandenburg BStU, Ast. Potsdam, AS 1⁄53 Band IV Blatt 47

Herr A.: 5 Jahre Zuchthaus1

Herr A., der 50-jährige Buchhalter aus der Thälmannwerft, gehörte zu den 1.000 Demonstranten, die vor dem geschlossenen Tor des Schlepperwerkes Einlass begehren, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zum Streik aufzufordern. Das Werktor war auf Anordnung des Werkleiters verbarrikadiert. Trotzdem gelangten die Demonstrierenden in den Innenhof. Drinnen, im Betriebsgebäude, traf Herr A.  auf den zuständigen Genossen für den Werkfunk in der  Thälmannwerft.

Er rief ihm zu: „Was machst Du hier, los komm, marschiere mit.“2  Am 21. August 1953 wurde Herr A. verhaftet. In der Kreisdienstelle des Staatssicherheitsdienstes Brandenburg erklärte er: „An den Tumulten nahm ich deshalb mit teil, weil die Regierung uns ‚beschwindelt’ hat und die HO-Preise nicht senkte.“ Von dort wurde er nach Potsdam, in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt, in der Lindenstraße 54 gebracht. Am 28. Oktober 1953 wurde er vom Bezirksgericht Potsdam zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Vier Jahre später, am 20. Mai 1957, wurde er wegen „guter Führung“ entlassen.


1Prozessakten der Staatsanwaltschaft; BStU, Ast. Potsdam, STA 4393 Band I und II

2ebenda Blatt 25

3ebenda Blatt 26

5 Jahre für Herrn H.1

Herr H., der 35jährige Brigadier im Walzwerk Kirchmöser, hatte in den Vormittagsstunden des 17. Juni die Demonstrationen in Brandenburg beobachtet. Als er um 15.00 Uhr zu seiner Schicht  antrat, berichtete er seinen Kollegen von den Ereignissen. Bei seinem Eintreffen ruhte die Arbeit im Betrieb teilweise und die Belegschaft war verunsichert.

Herr H. besaß als BGL-Mitglied bei den Kollegen hohes Vertrauen. Nachdem er die Belegschaft in der Halle 51 zusammengerufen hatte, berichtete er, dass die Belegschaften folgender Betriebe - des Stahlbaus der Bauunion, des Stahl- und Walzwerkes Brandenburg, des Traktorenwerkes und anderer VEB-Betriebe – streikten. In der Stadt würde folgende Losung kursieren: „Der Sozialismus brachte uns Qualen, wir fordern freie Wahlen“. Es gäbe Ausschreitungen gegen die Volkspolizei und Einrichtungen des Staates und politische und gesellschaftliche Organisationen würden angegriffen werden. Die Arbeiter des Walzwerkes schlossen sich daraufhin dem Streik an und bildeten ein Streikkomitee.

Herr H., begab sich anschließend in das RAW Kirchmöser, wo sich ca. 250 Personen befanden. Hier forderte er die Belegschaft ebenfalls zum Streik auf, verließ eine Resolution und forderte zur Befreiung von politischen Gefangenen, die im Zuchthaus Brandenburg-Görden einsaßen, auf. Vorauf sich einige Jugendliche dorthin auf den Weg machten.

Nach Ausrufung des Ausnahmezustandes wurde Herr H. kurzzeitig inhaftiert aber wieder freigelassen. Am 28.06.1953 wurde er wieder verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen sich aktiv als Rädelsführer an dem „faschistischen Putschversuch“2  am 17.6 und 18.6. 1953 beteiligt zu haben.

Wegen Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel III A III wurde Herr H. zu vier Jahren Zuchthausstrafe verurteilt. Außerdem trafen die Sühnemaßnahmen K.D. 38 Art. IX Ziff. 3 ⁄ 9 zu. Er erhielt fünf Jahre Berufsverbot.

1956 wurde dem Verurteilten eine bedingte Strafaussetzung gewährt und die Bewährungsfrist auf zwei Jahre festgesetzt.
Herr H. verließ die DDR und folgte seiner Familie in die BRD.


1BStU BVfS Potsdam AU 300 ⁄ 53 STA 4361

2Ebenda, S. 000003

 

Zwei Jahre Haft für Herrn …1

Herr …, Name unbekannt, Sprengmeister  im Stahl und Walzwerk Brandenburg, kam am 17.6.1953 um 6.00 Uhr zur Frühschicht. Er forderte die Brenner am Schrotplatz auf die Arbeit niederzulegen.

Am Rundbau des Werkes hatten sich inzwischen hunderte Arbeiter eingefunden und diskutierten über Arbeitsniederlegungen. Herr …, stellte die Forderung „Nieder mit der Regierung, freie Wahlen!“2   Er stellte fest, die Regierung der DDR hätte die Menschen um acht Jahre beschissen.3 Der Werkleiter forderte die Versammelten auf, sich im Kulturraum zu versammeln. Dort meldete sich Herr … freiwillig als Delegierter, um nach Berlin zu fahren und dort Forderungen an die Regierung der DDR zu übergeben. Auf dem Weg nach Berlin wurde die Delegation von der Polizei aufgehalten, die darauf hinwies, dass inzwischen der Ausnahmezustand ausgerufen worden sei. Daraufhin schlug  Herr … vor, über den  Westsektor nach Berlin einzureisen.

Herr …, wurde verhaftet. Nachdem gegen ihn ein Verfahren wegen Landfriedensbruches eingeleitet worden war, konnte ihm allerdings nicht nachgewiesen werden, dass er Gewalttätigkeiten gegen andere Personen verübt hätte. Er wurde auf Grund seiner Forderungen gegen die Regierung der DDR und des Aufrufs zum Streik als „Rädelsführer“  verurteilt. Grundlage des Urteils war Artikel 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit KD 38, Abschnitt II, Artikel III A III.4


1BVfS Potsdam Au 240 ⁄ 53 STA 4410

2Ebenda, Bl. 000050

3Vgl. ebenda, Bl. 000051

4Vgl. ebenda, Bl. 000008

Nach Artikel 6 Verurteilte

Die Aburteilung von tatsächlichen oder potenziellen Gegnern der neuen Ordnung  durch die DDR-Gerichte verliefen zur Zufriedenheit der sowjetischen Besatzungsmacht, aus deiesem Grunde konnte sie dazu übergehen, immer mehr politische Verfahren an diese abzugeben. Nach welchem Prinzip dies geschah, blieb allerdings bis heute im Dunkeln. Zum Beispiel konnten Verfahren wegen illegaler Flugblattverteilung, staatsfeindlicher Propaganda bis hin zur Vorbereitung einer Verschwörung und damit „Gefährdung des Weltfriedens“ sowohl von einem sowjetischen Militärtribunal als auch vor einem DDR-Gericht stattfinden. Weil die DDR zu Beginn noch nicht über ein politisches Strafrecht verfügte, wurden politische Delikte nun häufig nach Artikel 6 der Verfassung geahndet. Er lautete: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militärische Propaganda sowie Kriegshetze  und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des StrafGesetzbuches“. Es waren alle Strafmaße bis hin zur Todesstrafe möglich.  Neben dem „Gesetz  zum Schutz des Friedens“ hatte sich damit der SED-Staat ein geeignetes Instrument zur Verfolgung seiner politischen Gegner geschaffen.

Im § 5 des Gesetzes zum Schutz des Friedens hieß es z. B.: „Wer im Dienste der Kriegshetze die Bewegung für die Erhaltung und Festigung des Friedens verächtlich macht oder herabwürdigt oder gegen Teilnehmer am Kampf für den Frieden wegen ihrer Tätigkeit hetzt oder sie verfolgen lässt, wird mit Gefängnis, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft.“  
Für die Ausschaltung des politischen Widerstandes bediente sich die Justiz des  Artikels 6 der Verfassung häufig in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38. Damit erweckte die Strafverfolgung den Anschein, als wäre sie durch das Alliiertenrecht politisch gedeckt.

Siehe 3.3.1.1 Verhafteter 06

Der Motorenschlosser Tettenborn aus dem SWB wurde wegen Boykotthetze  nach Art. 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38 II, Artikel III A III zu einem 1 Jahr und 6 Monate und Sühnemaßnahmen der KD 38 Art. IX Ziff. 3 ⁄ 9 verurteilt.

Wegen „geringer Schuld und unbedeutender Folgen der Tat“ wurde das Urteil am 3. Juli 1953 vom Obersten Gericht aufgehoben.